
Kapitel 1 - Einstieg ins 'Experiment'
Otto Otter ist ein Pseudonym. Er war nie mein Partner, nie mein Liebhaber, nicht einmal mein Schwarm. Es war von Anfang an klar, dass daraus nichts entstehen würde, was in irgendeiner Form romantisch oder sexuell hätte werden können. Ich habe es ausgesprochen, früh und eindeutig. Und doch war er über Monate, schließlich Jahre, ein fester Bestandteil meines Alltags – per WhatsApp, in meinen Streams, in Telefonaten, in Gedanken. Ich habe zugehört, obwohl ich hätte auflegen sollen. Ich habe geantwortet, obwohl ich längst nichts mehr zu sagen hatte. Und ich habe mir eingeredet, es sei eine Art von menschlichem Versuch, ein Experiment, bei dem ich herausfinden wollte, wie lange man jemanden wie Otto aushalten kann, ohne selbst den Kompass zu verlieren. Ob man jemanden, der so fest in seinem eigenen Selbstbild zementiert ist, erreichen kann – oder zumindest verstehen. Heute würde ich sagen: Ich habe mich überschätzt.
Otto war einer von denen, die sich selbst als besonders empathisch, besonders rücksichtsvoll, besonders sensibel darstellen – und dabei keinen Moment lang in Frage stellen, wie sie auf andere wirken. Einer von denen, die sich selbst den Status des „netten Kerls" verleihen, aber gleichzeitig mit Wut und Verachtung über Frauen reden, sobald diese sich nicht so verhalten, wie sie es für gerechtfertigt halten. Einer von denen, die sich selbst in der Opferrolle eingerichtet haben und jeden Zweifel daran als Angriff erleben. Man nennt dieses Muster inzwischen einen „Nice Guy". Und das ist kein Kompliment.
Ich schreibe diese Geschichte nicht, weil ich auf ihn wütend bin. Ich schreibe sie, weil ich ehrlich sein will. Weil ich diese Rolle zu lange mitgespielt habe. Und weil ich glaube, dass es vielen so geht wie mir: Man merkt zu spät, dass man gerade einem Menschen zuhört, der sich nicht verändern will, sondern nur Bestätigung sucht. Und manchmal dauert es Jahre, bis man den Hörer auflegt.
Kapitel 2 - Uniformen, Macht und das Bedürfnis, jemand zu sein
Otto erzählte früh von seiner Zeit bei der Bundeswehr. Es war eine dieser Geschichten, die nie ganz klar wurden. Mal schien er besonders stolz darauf zu sein, mal klang es nach Pflichtstation, mal wich er aus. Auch nie klar wurde mir ob er dort Scharfschütze gewesen war, zumindest Sportschütze ist definiv, aber da mich dieses Thema nie brennend interessierte ist da meine Erinnerung verwaschen.
Ich glaube nicht, dass es ihm je um den Dienst selbst ging. Es ging um das Bild, das er damit verbinden wollte. Kontrolle, Können, Respekt. Es war kein Interesse am Soldatenberuf, sondern am Status. Uniform war für Otto kein Kleidungsstück, sondern ein Zugang zu Bedeutung. Und dieses Muster zog sich durch alles, was danach kam.
Er wollte zur Polizei, wie sein Vater. Hat es nicht geschafft. Warum, das sagte er nie deutlich. Stattdessen machte er eine Ausbildung zum Verwaltungsfachangestellten und landete im Ausländeramt. Dort, so erzählte er es, arbeitete er einige Jahre, bis er – seiner Darstellung nach – Opfer von Mobbing wurde und entlassen wurde. Das war wohl so 2016. Wer damals in einem bayerischen Ausländeramt gefeuert wird, obwohl die Personalnot akut war, hat entweder Pech oder passte irgendwie prinzipiell nicht rein. Otto sah sich als Opfer. Ich habe rückblickend Zweifel, ob das die ganze Geschichte war.
Nach dem Amtsjob folgten ehrenamtliche Tätigkeiten beim Roten Kreuz. Essen auf Rädern, Infostände, später die geförderte Ausbildung zum Rettungssanitäter. Auch hier: Erzählung vom Heldendienst, von Aufopferung, von Notfallkompetenz. Die Ausbildung hat er nicht geschafft. Prüfungsangst. Das hat er selbst so gesagt. Ich kenne Menschen mit Prüfungsangst, ich weiß, was das mit einem machen kann. Ich nehme ihm das ab. Aber was danach kam, ließ mich stutzen.
Er erzählte mir mit wütender Stimme, dass er bei einem öffentlichen Infostand des BRK keine Jacke bekommen habe. Keine Montur, kein sichtbares Zeichen, dass er dazugehört. Für ihn war das ein Affront, ein Beweis für weitere Ausgrenzung. Ich fragte Pete, der selbst jahrelang Gruppenleiter beim Roten Kreuz war. Pete lachte trocken. Natürlich bekommen die Ehrenamtlichen am Stand eine Jacke. Es sei denn, es gibt einen Grund, warum jemand das Rote Kreuz nicht vertreten soll.
Otto hat sich nie gefragt, ob er vielleicht selbst dieser Grund war. Nicht bei der Polizei, nicht beim Amt, nicht beim Roten Kreuz. In seiner Erzählung war er immer der Falschausgewählte, der übersehene Gute, der zu nette, zu ehrliche, zu prinzipientreue Mensch in einer Welt voller Feiglinge und Intriganten. Dass man mit einer solchen Sicht irgendwann keine Jacke mehr bekommt, hat ihn nur weiter bestätigt – statt ihn zu hinterfragen.
Es war nicht die Uniform selbst, die er suchte. Es war das, was sie ihm versprechen sollte: Bedeutung. Autorität. Respekt. Und vielleicht ein Gefühl von Kontrolle in einem Leben, das nie so gelaufen ist, wie er es sich vorgestellt hat.
Kapitel 3 - Frauenbilder und die Angst vor Kontrollverlust
Otto sprach oft über Frauen. Nicht über einzelne Frauen, nicht über Begegnungen oder Beziehungen mit echten Namen und echten Gesprächen. Sondern über „die Frauen". Sie waren ihm fremd und zugleich zentral. In seinen Erzählungen waren sie Quelle seines Leids, Bühne seiner Tugend, Projektionsfläche seiner Ansprüche. Seine Ex-Frau war „eine Narzisstin". Warum, das wusste er ganz genau: Sie hatte ihn einmal, als er sich an einem sonnigen Nachmittag nackt in den Garten legte, mit einem einzigen Satz kommentarlos abgewatscht. Er war zu dieser Zeit arbeitslos und depressiv zu Hause, weshalb ihre Reaktion sicher keine Ausgeburt von Mitgefühl war: „Arbeiten willst du wohl auch nicht mehr." Danach, so erzählte er, ging sie einfach ins Haus. Für ihn war das der Beweis ihrer Grausamkeit. Ich dachte nur, wie wenig es braucht, um ein Urteil zu fällen, wenn man es fällen will. Und wie wenig er darüber nachdachte, was diesen unsensiblen Satz bei ihr ausgelöst hatte.
Er sprach oft davon, wie falsch, wie undankbar, wie manipulativ Frauen seien. Und zugleich davon, wie sehr sie ihn verletzt hätten, obwohl er doch nur helfen wollte. Immer wieder betonte er, wie freundlich, hilfsbereit und loyal er sei. Er stellte sich nicht als stark dar, sondern als gut. Als besser. Und darin lag der Keim der Übergriffigkeit, die er selbst nie erkannte.
Ich erinnere mich an eine Situation, die nie stattfand, ihn aber tagelang beschäftigte: Ich hatte im Telefonat gesagt, dass ich in einem verbalen Streit niemanden brauche, der sich schützend vor mich stellt. Und dass ich will, wenn etwas körperlich eskaliert, dass mein Gegenüber mit mir zusammen davonläuft und wenn es hilft werfen wir unsere Geldbeutel hinter uns. Ich brauche keinen Helden. Ich will keine Schlägerei. Ich will niemanden, der wegen mir ins Krankenhaus geht. Für Otto war das nicht nachvollziehbar. Er konstruierte Szenarien, widersprach, argumentierte, versuchte mir klarzumachen, dass es seine Pflicht sei, mich zu beschützen. Ich habe es ihm gesagt, mehrfach und deutlich: Du sollst mich nicht beschützen. Du darfst es nicht. Wenn du es tust, handelst du gegen meinen Willen. Er verstand es nicht. Oder wollte es nicht verstehen.
Noch krasser war die Reaktion auf ein Date, von dem er mir erzählte. Eine Frau, mit der er länger geschrieben hatte, hatte beim ersten Treffen beiläufig erwähnt, dass sie ein wichtiges Medikament vergessen hatte – ob es Insulin war oder etwas gegen eine Allergie, weiß ich nicht mehr. Sie sagte, sie komme schon klar. Otto rastete aus. Er rief mich mitten in einem sexuellen Stream mit Kirk an, aufgebracht, empört, erschüttert. Sie habe ihm mit diesem Versäumnis quasi die Verantwortung für ihr Leben übergeben. Sie habe ihn zu ihrem Retter gemacht, ohne ihn zu fragen. Er war nicht fähig zu sehen, dass diese Frau ihm nichts aufgebürdet hatte. Sie hatte eine eigene Entscheidung getroffen. Aber für Otto war es ein Angriff – auf seine Kompetenz, auf seine Kontrolle, auf sein Bild von sich selbst. Und deshalb war sie erledigt. Date gestrichen. Kontakt abgebrochen.
Noch absurder war die Geschichte mit einer anderen Frau, die ihm eines Abends per WhatsApp ihre Verliebtheit gestand. Er las die Nachricht, schaltete sein Handy aus und war bis zum nächsten Vormittag nicht erreichbar. Als er es wieder einschaltete, hatte sie mehrfach versucht, ihn zu erreichen. Für ihn war das eine Unverschämtheit. Aufdringlich. Übergriffig. Ich fragte ihn nur: Stell dir vor, du hättest ihr deine Gefühle geschrieben – und sie hätte daraufhin das Handy abgeschaltet. Wie würdest du dich fühlen? Es war das einzige Mal, dass ich so etwas wie Nachdenklichkeit bei ihm gespürt habe. Ob er sich bei ihr je gemeldet hat, weiß ich nicht. Ich vermute, eher nicht.
Otto hielt sich für einen Mann, der Frauen liebt. Aber in Wahrheit wollte er sie lenken. Nicht mit Gewalt, nicht mit Lautstärke – sondern mit Fürsorge, mit angeblicher Güte, mit dem Anspruch, zu wissen, was richtig ist. Er war kein Sadist. Aber er war auch kein Guter. Und das macht es so schwer, mit solchen Menschen umzugehen. Weil sie sich selbst nie als Täter sehen. Und weil sie jede Ablehnung als Undank erleben.
Kapitel 4 - Männerhass, Misstrauen und die Kunst, immer das Opfer zu bleiben
Otto sprach nicht nur schlecht über Frauen. Er sprach auch schlecht über Männer. Fast über alle. Und das auf eine Weise, die nicht wie berechtigte Kritik klang, sondern wie tief sitzendes Misstrauen, wie Neid, wie Ärger darüber, dass andere Männer in seiner Welt Dinge bekamen, die ihm – seiner Ansicht nach – versagt blieben. Aufmerksamkeit. Anerkennung. Nähe.
Männer aus seinem direkten Umfeld, Männer auf der Plattform, auf der wir uns kennengelernt hatten, Männer auf der Straße, Männer in Ämtern – sie alle kamen nicht gut weg. Besonders scharf war seine Abwertung gegenüber Männern mit Migrationshintergrund. Ich habe lange versucht, ihn zu stoppen, habe mehrfach gesagt, dass ich solche Aussagen nicht hören will. Irgendwann wurde klar: Es war keine Einzelmeinung, kein Ausrutscher, kein übernommenes Zitat. Es war Überzeugung. Er glaubte an diese Dinge. Er glaubte, dass bestimmte Männer gefährlicher seien als andere. Er glaubte, dass Abschiebung nicht nur rechtlich, sondern auch moralisch eine Genugtuung sei. Und er war stolz darauf, wenn er während seiner Zeit im Ausländeramt „jemanden rausschicken" konnte. Das waren seine Worte. Und das war der Punkt, an dem ich endgültig nicht mehr diskutieren konnte.
Auch gegenüber seinen eigenen Söhnen war sein Blick von Misstrauen geprägt. Er warf ihnen vor, sich von ihm zu entfernen. Er fragte mich, ob es normal sei, dass Teenager ihren Vätern keine Mühe mehr machen mit Geschenken. Ob es normal sei, dass sie lieber bei der Mutter sind. Ob es normal sei, dass sie nicht mehr anrufen. Ich sagte, was jeder sagen würde: Ja. Es ist normal. Es ist Teil des Erwachsenwerdens. Und es ist kein Angriff. Aber für Otto war selbst die Pubertät seiner Kinder ein Indiz dafür, dass ihm etwas genommen wird. Dass seine Ex-Frau die Fäden zieht. Dass man ihm wieder etwas wegnimmt, das ihm zusteht. Liebe. Dankbarkeit. Nähe.
Auch auf der Plattform, auf der wir beide aktiv waren, fiel dieses Muster auf. Wenn ein Mann sich daneben benahm, dann war das kein kleines Ärgernis, sondern ein weiteres Puzzlestück in Ottos Sammlung: der Beweis, dass Männer grundsätzlich schlecht sind. Er echauffierte sich, wütete im Chat, verglich, verurteilte. Und immer wieder – in jedem dieser Monologe – schwang unterschwellig der Satz mit: „Ich bin nicht wie die." Das war sein Mantra. Und zugleich sein größter Irrtum. Denn in dem Moment, in dem man sich über alle anderen erhebt, ist man nicht besser. Man ist nur anders selbstgerecht.
Ich glaube, Otto war nie wirklich imstande, andere Männer als gleichwertig zu sehen. Es gab für ihn nur drei Kategorien: Die Bösen, die Dummen – und sich selbst. Und selbst das schwankte. Je nachdem, wie groß sein Selbstmitleid gerade war, wurde aus dem moralischen Besserwisser wieder das Opfer. Der zu Gute, der nicht verstanden wird. Der Ehrliche, der verletzt wird. Der Vater, der ausgenutzt wird. Der Deutsche, der übergangen wird. Der Mann, der keine Jacke bekommt.
Es gab keinen stabilen Platz, von dem aus Otto andere Menschen betrachten konnte. Es gab nur ihn – mal auf dem Sockel, mal am Boden – aber immer im Mittelpunkt. Und wer nicht in seine Erzählung passte, wurde ausradiert. Emotional, sozial, manchmal auch wörtlich. „Rauskegeln", hat er das genannt. Ich hätte es früher tun sollen.
Kapitel 5 - Das Ende. Und warum es so lange gedauert hat.
Es gibt Freundschaften, die wachsen. Andere zerfallen. Und dann gibt es die, die von Anfang an ein Fehler waren – aber so lange geduldet werden, dass man den Bruch am Ende fast schon als Erlösung empfindet. Otto war so ein Fehler. Aber er war ein langsamer, schleichender, müder Fehler. Keiner, der weh tat. Einer, der sich festsetzte wie ein Gedanke, den man nicht denkt – und trotzdem nicht loswird.
Ich habe oft gewusst, dass ich den Kontakt abbrechen müsste. Ich wusste es, wenn er wieder rassistische Dinge sagte. Ich wusste es, wenn er sich über Frauen empörte, die sich nichts gefallen ließen. Und trotzdem habe ich ihn nicht gesperrt. Ich habe geantwortet. Ich habe diskutiert. Ich habe versucht, ihm meine Weltbilder zu erklären.
Der endgültige Bruch kam nicht durch eine große Szene, sondern durch einen politischen Kipppunkt. Es war die Zeit vor der Bundestagswahl, und ich war viel damit beschäftigt, gegen Rechts zu posten, aufzuklären, zu argumentieren, sichtbar zu sein. Und ausgerechnet in dieser Zeit erklärte mir Otto wieder, warum Abschiebung eine gute Sache ist. Warum Männer bestimmter Herkunft ein besonderes Risiko darstellen. Nachdem er mir die Tage vorher erklärt hatte warum das Selbstbestimmungsgesetz eine Bedrohung sei. Ich konnte nicht mehr. Ich wollte nicht mehr.
Ich habe nicht diskutiert. Ich hab gesagt ich leg jetzt auf. Und nicht mehr abgehoben.
Er hat noch versucht, mich zu erreichen. Über WhatsApp. Über Joy. Er hat gefragt, ob zwischen uns Stress sei. Ich habe mit "korrekt" geantwortet. Das war kein eleganter Ausstieg. Kein bewusster, reflektierter, souveräner Bruch. Es war Ghosting. Aber ich habe die Nerven dafür nicht mehr, nicht nach 2 Jahren ohne irgendeiner Änderung oder einer Gewöhnung meinerseits. Ich kann mit der menschlichen Konfiguration "Goldener Engel Inside" nicht umgehen, weder bei Männern noch bei Frauen. Er war der letzte Versuch in dieser Richtung.
Ich bin nicht stolz auf die Geschichte mit Otto. Weil ich ihm nicht mehr geantwortet habe UND weil ich es so lange getan habe. Weil ich mich so lange auf Gespräche eingelassen habe, die keine waren. Weil ich versucht habe, einen Menschen zu überzeugen, der nicht gehört hat. Und weil ich zu spät gemerkt habe, dass mich das verändert hat. Nicht zum Guten, sondern zum Ungeduldigen gegenüber allem Unreflektierten und Doppelmoralischem.
Manchmal sind es nicht die lautesten Menschen, die dich am meisten erschöpfen. Sondern die, die immer ein bisschen zu leise, ein bisschen zu freundlich, ein bisschen zu hilflos wirken. Die, die nie genau sagen, was sie wollen – und am Ende alles von dir erwarten. Otto war so einer. Und ich habe es lange mit mir machen lassen. Aber jetzt ist Schluss.
An alle Nice Guys und Good Girls:
REFLEKTIERT EUCH!
SEIT RADIKAL EHRLICH ZU EUCH SELBST!
Und wenn ihr dann endlich erkannt habt, dass ihr keine "Goldenen Engel Inside" seid, dann könnt ihr anfangen gute Menschen zu sein, weil ihr dann endlich seht:
JEDER MENSCH IST EIN MENSCH!