Von Maschinen, Chaoten, Swingerclubs und dem Sinn für Schönheit

Teil 1 Einziehen in den Ausnahmezustand

Kapitel 1 Einziehen in den Ausnahmezustand

O war aus dem gleichen Dorf wie ich. Zehn Jahre älter, Motorradfreak, Teil der Kumpelgruppe meiner Brüder. Ich hatte ihn schon früher gesehen – einmal, wie er auf der Hochzeit meines ältesten Bruders mit seinem Motorrad einen Kreis ziehen wollte. Was mir damals auffiel, war nicht er – sondern das Motorrad. Laut, unhandlich, hässlich. Eine Ducati Königswelle, die später schöner werden sollte. Damals war sie einfach nur laut. Und ich hab's registriert, aber nicht weiter beachtet. Er war einer von vielen, ich war noch sehr jung.

Erst an Silvester 2004 sah ich ihn wirklich. Da standen wir zusammen – beide etwas angetrunken – und kamen ins Gespräch. Ich war 22, er 32. Und da war plötzlich diese Mischung: Vertrautheit, weil er zu den Bekannten meiner Brüder gehörte. Und gleichzeitig: Anziehung. Ich fand ihn hübsch. Nicht besonders groß, was ich immer mochte. Lange dunkle Haare. Braune, wirklich schöne Augen. Ein bisschen gebogene Nase. Und ein Körperbau, den ich sehr attraktiv fand – etwas bauchig, kräftig, nicht durchtrainiert, sondern echt. Ich fühlte mich sicher mit ihm, körperlich angezogen, aber auch einfach wohl.

Wir kamen direkt auf das Thema Sex. Ich sagte, ich würde gerne mal in einen Swingerclub gehen. Er sagte: „Das würde ich auch mal machen." Ganz direkt. Kein Spiel. Kein Flirten. Nur zwei Menschen, die sich verstanden. Wir sagten: Das machen wir mal – ohne, dass wir zusammen sein müssten. Ein lose hingesprochenes Versprechen im Suff. Aber wir tauschten Handynummern aus.

Am nächsten Tag – oder eher gegen Mittag – endete die Party. Er ging zu seinen Eltern übernachten, ich in meine Wohnung. Wir schrieben. Und obwohl das erste Thema so klar sexuell war, haben wir etwas ganz anderes gemacht: wir lernten uns kennen. Richtig. Wir gingen zusammen essen, ins „Kult", eine Art halbes Szenelokal, halb Kneipe, halb was-auch-immer. Und wir redeten. Wir redeten stundenlang. Bis Sperrstunde. Dann weiter im Auto. Fünf Wochen lang trafen wir uns mehrmals, und jedes Mal redeten wir ohne Ende. Er war einer von denen, die leuchten, wenn sie erzählen. Vor allem, wenn er von Motorrädern sprach. Aber auch, wenn er von alten Burgen, Gebäuden, Architektur redete. Dinge, die ich auch schön fand. Er war begeistert – und seine Begeisterung war ansteckend.

Ich war von Anfang an sexuell interessiert. Ich hätte sofort mit ihm geschlafen, ohne Frage. Aber die Verliebtheit kam langsam. Nicht beim ersten Blick. Sondern beim Zuhören.

Dann fuhr ich das erste Mal zu ihm nach Hause. Er hatte viel davon erzählt – von seinem Haus, seinem Rückzugsort. Ich wusste, dass er nicht ordentlich war. Ich selbst bin es auch nicht. Ich habe seit jeher Probleme, Ordnung zu halten. Ich arbeite hart daran – und in den letzten Monaten sogar erfolgreicher – aber damals war das ein echtes Problem. Ich kenne Unordnung. Ich kenne auch Dreck. Aber was mich dort erwartete, war eine andere Liga.

Von außen: halb heruntergerissene Ethernitplatten, unfertige Ecken, alles sah improvisiert aus. Von innen: Räume, die nicht begehbar waren. Nicht wohnlich. Nicht geordnet. Viel war schlicht unbenutzbar. Und er stand da. Auf der Treppe. Ein bisschen verschüchtert, mit dem Blick eines Mannes, der genau weiß, was er dir da gerade zumutet. Und ich konnte nicht anders. Ich küsste ihn. Unser erster Kuss. Kein perfekt inszenierter Moment – aber ein echter. Und schön.

Kurz danach zog ich ein. Nicht aus romantischer Sehnsucht – sondern weil ich musste. Ich wohnte damals mit meiner jüngeren Schwester in einer WG. Wir verstanden uns, aber nicht beim Wohnen. Ich bin zu unordentlich, sie war überfordert, es gab Streit. Dann zog sie zu ihrem Freund. Und ich konnte mir die Wohnung nicht mehr leisten. Ich hatte mich auf der BOS angemeldet, wollte Abi machen. O hatte ein Haus. Ich zog ein.

Mit mir zog auch meine Küche ein. Die war aus der Wohnung, die ich früher mit meiner Schwester – mit H – geteilt hatte. Einfach, aber funktional. O baute sie um. Nicht irgendwie – sondern mit Hingabe. Er machte daraus eine schöne Küche. Mit Beleuchtung. Mit Ordnung. Mit Sinn fürs Detail. Und ich wusste: Da ist jemand, der Dinge nicht wegwirft. Sondern verwandelt.

Und dann kam dieser Moment. Ich muss ihn erzählen, weil er wichtig ist.

O hatte was draußen zu tun und bat mich, in der Zwischenzeit ein paar Ballen Glaswolle auf den Dachboden zu schaffen. Ich verstand das als Befehl. Ich war aufgewachsen in einem Haus, wo Anweisungen befolgt wurden. Drill, wie bei Soldaten. Wenn es Arbeit gab, wurde sie gemacht. Ohne Fragen. Ich schleppte einen Ballen nach dem anderen. Es war warm, das Zeug juckte, ich schwitzte, ich biss die Zähne zusammen. Als er wieder reinkam, sah er mich an und fragte: „Hast du die jetzt alle hoch getragen?" Ich, schweißgebadet: „Ja."

Und er sagte nichts weiter. Nur: Er nahm mich in den Arm und sagte: „So was musst du nicht machen."

Das war der Moment, in dem ich verstanden habe: Ich bin nicht in meinem Elternhaus. Ich bin nicht Befehlsempfänger. Ich bin nicht Teil eines Systems, das Drill über Nähe stellt. Ich bin in einem Haus, in dem ich sein darf. Nicht perfekt. Nicht brav. Aber da.

Wir haben später noch sehr viel gearbeitet. Holz gemacht. Motorräder geschraubt. Das Haus renoviert. Die Scheune. Die Küche. Aber wir taten es zusammen. Im Takt. Nicht im Zwang.

Ich weiß, O will heute nichts mehr mit mir zu tun haben. Ich habe ihn verletzt – nicht aus Bosheit, sondern weil ich krank war. Ich war in einer depressiven Phase, ich war nicht gut für ihn. Und irgendwann war er nicht mehr gut für mich. Es ging nicht mehr. Aber ich bin ihm nicht böse. Und wenn er mir noch böse ist, kann ich das verstehen.

Aber ich werde nie vergessen, wie er war. Und was er mir beigebracht hat. Dass Arbeit auch gemeinsam geht. Dass man nicht untergehen muss, um etwas aufzubauen. Und dass man manchmal jemanden braucht, der einfach sagt: Das musst du nicht.


 

Teil 2 Chrissi

Kapitel 2: Die beste Freundin, in die alle verknallt waren

Chrissi habe ich nicht auf einem Fest kennengelernt, nicht zufällig, sondern: O hat sie mir vorgestellt. Ohne Inszenierung, ohne Vorwarnung.  Es war seine beste Freundin. Punkt. Kein Gespräch darüber, ob ich eifersüchtig sein könnte. Kein Herantasten. Kein Versuch, sie mir zu „erklären". Weil es für ihn nicht erklärungsbedürftig war.

Ich wusste nur: Sie waren mal zusammen gewesen. Das hatte er erwähnt. Aber es hatte nicht gepasst. Und seitdem waren sie befreundet, beste Freunde. Und so standen wir irgendwann vor ihrer Wohnung in Wertheim. Wertheim an der Tauber und am Main. Mit seiner wunderschönen Burg, mit der Postkartenkulisse und – so hatte sie mir später erzählt – auch mit regelmäßigen Hochwässern. Ihre Wohnung war klein, aber durchgestylt. Und nicht aufgesetzt. Chrissi ist jemand, der Räume so einrichtete, dass sie lebten und funktionierten. Ich habe bis heute niemanden kennengelernt, der so ein Gespür für Einrichtung hat wie sie. Später erfuhr ich: Sie arbeitet im Baumarkt, hat auch Dekorateurin gelernt. Und sie kann nicht nur denken, sondern bauen. Sie ist praktisch, handwerklich geschickt, lösungsorientiert – aber von außen sieht man das nicht sofort. Damals war sie sehr schlank, recht groß, wunderschön, eher im Rockabilly-Stil unterwegs, aber ohne Klischee. Und dieser Stil wurde über die Jahre stärker: ausgesuchte Tattoos, richtig gemacht, bei echten Künstlern, nicht bei der gammeligen Tattoobude um die Ecke. Auch ihre Fingernägel waren oft kleine Kunstwerke. Sie liebte das. Sie pflegte das. Und trotzdem – nie war da ein Funke Oberflächlichkeit.

Ich gebe zu, ich war kurz eifersüchtig. Wer wäre das nicht gewesen? Da stand diese Frau: attraktiv, klug, stilvoll, mit O auf du und du. Aber ich hatte genug Vertrauen. Und O hatte genug Transparenz. Da lief nichts. Und da sollte auch nie was laufen. Er hätte es mir gesagt. Unsere Beziehung war nicht monogam, das war von Anfang an klar. Und wenn O jemand anderes hätte vögeln wollen – dann hätte er das tun können. Aber Chrissi war ausgenommen. Sie war seine beste Freundin. Und das hat er nie auch nur ansatzweise in Frage gestellt.

Ich lernte sie kennen, wir redeten, sie erzählte mir von ihrer Katze – einer, die sie mit der Flasche aufgezogen hatte und die dann richtig aggressiv geworden war. Die Katze hatte sie sogar gebissen, in die Schlagader, sie musste genäht werden. Trotzdem: Sie war Katzenmensch. Viel später kam noch ein Hund dazu. Hundemenschen gibt's viele. Aber Katzenmenschen – da fühle ich mich gleich connected.

Was mich an Chrissi beeindruckt hat, war diese angeblichen Widersprüche, die sie zumindest scheinbar mühelos leben konnte: stilbewusst und praktisch. Schönheit und Schraubenschlüssel. Tattoo und Akkuschrauber. Wohnzimmerlampe anbauen und Maniküre. Sie war jemand, bei dem man sich auf Anhieb wohlfühlte – nicht weil sie sich anbiederte, sondern weil sie sich nicht verstellte.

Und ja: Jeder war verknallt in sie. So mein Eindruck. Unser Freundeskreis war relativ groß, und ich hatte oft das Gefühl, dass jede männlich gelesene Person in der Nähe von Chrissi mindestens mal ein paar Sekunden zu lang auf sie schaute. Aber das war nicht ihr Problem. Und nicht meins. das war deren Problem. Ich war da, ich war mit O zusammen, und Chrissi war einfach Teil davon. Später sollte sie noch viel wichtiger werden. Nicht nur als Figur in O's Welt, sondern auch in meiner. Denn irgendwann zog sie zurück in ihr Elternhaus – oder besser gesagt: Sie kaufte es. Mit 24. Damit es nicht verloren ging. Und sie hielt es. Mit zwei Jobs. Immer. Weil sie so war. 

Vor allem wohnte sie so nur etwa 200 m weit weg von uns... O, Chrissi und ich... wir waren auf diesem kleinen fränkischen Dorf Teil der Koalition der Paradiesvögel.

Das hier ist noch kein Kapitel ihrer Geschichte. Das hier ist nur die Tür.
Aber der Chrissi-Arc beginnt. Jetzt.


 

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