Chrissi - Unfassbar, dass in MSP Paradiesvögel gedeihen

Türkis, pink und Werkzeug in der Hand

Als Chrissi in das Kaff zog, in dem auch Os Haus stand, war das keine Flucht, kein Plan B, kein jugendlicher Aufbruch mit offenen Fragen – es war eine Entscheidung. Eine von denen, die man nur trifft, wenn man weiß, was auf dem Spiel steht. Sie kaufte das Haus ihrer Eltern. Nicht weil sie es musste, sondern weil sie es nicht wollte, dass es einfach weg ist. Und sie hielt es. Mit zwei Jobs, mit handwerklichem Geschick, mit einer Art Selbstverständlichkeit, die mich beeindruckte, ohne sich in den Vordergrund zu drängen.

Ich habe viele Wohnungen gesehen, auch gut eingerichtete, auch viele nachgemachte, glatte, durchdachte Konzepte, die genauso auch im Möbelkatalog hätten stehen können. Aber das, was Chrissi in diesem Haus gemacht hat, war mehr als ein Konzept; das war Stil mit Haltung. Ein Stil, der brüllen konnte und doch geschmackvoll war.

Und wenn ich an dieses Haus zurückdenke, denke ich zuerst an das Wohnzimmer. türkise Wände – oder was ich türkis nenne, da würde meine Schwester H jetzt sofort protestieren, weil sie Farben anders bezeichnet als ich, und meistens auch richtiger, das gebe ich zu - dennoch für mich war es türkis. Und mitten in diesem türkisfarbenen Raum hing ein knall-pinker Kronleuchter . Es war wie ein optischer Hammerschlag, aber nicht billig oder geschmacklos - ganz im Gegenteil: Es sah fantastisch aus. Die Decke, die Kissen, alles passte und es passte zu ihr. Es war kein Zimmer von der Stange – es war ein Raum der „Das bin ich" schrie.

Damals war ich oft dort. Ich kannte in Urspringen kaum jemanden. O war mein Anker, aber wenn er Spätschicht hatte oder unterwegs war, war Chrissi mein zweites Zuhause. Ich war oft bei ihr, auch ohne ihn. Wir haben Pizza gegessen, manchmal was dazu getrunken, haben geredet, gelacht, Geschichten erzählt. Über Männer, über Autos, über Katzen, über das Leben. Wir waren einfach Freunde halt.

Ihre Katzen – mal eine, mal drei – waren immer präsent. Wer in einem Haushalt mit Katzen lebt, weiß, wer das Sagen hat und wo eine Katze herrscht fühle ich mich meist wohl.

Chrissi war jemand, bei dem man sitzen konnte, ohne sich erklären zu müssen. Jemand, der half, ohne lange zu fragen. Jemand mit einem Helferkomplex, ja – das weiß sie selbst. Manchmal half sie zu schnell, zu stark, zu sehr. Manchmal musste man sie bremsen, wenn man nicht wollte, dass sie für einen atmete. Aber lieber so als andersrum.

Manchmal fuhren wir rum. Chrissi hatte ein Cabrio. Später war es ein PT Cruiser, an dem sie sehr hing, auch wenn ich das Auto ehrlich gesagt nie hübsch fand. Aber mit lauter Musik durch die Gegend fahren – . „All Summer Long" von Kid Rock lief da oft. Wenn das lief, war das Verdeck auf, die Haare im Wind, das Leben in Ordnung. Und ich hab's genossen, dieses freie, freche Gefühl.

Chrissi war für viele im Freundeskreis eine Projektionsfläche. Nicht nur, weil sie hübsch war. Sondern weil sie eine Präsenz hatte, die nicht gespielt war. Alle waren in sie verknallt, so schien es. Aber das das war nicht von ihr forciert, das war einfach so.

Wir hatten lange dann keinen Kontakt, dazu möchte ich im nächsten Kapitel mehr schreiben.


 

Entschuldigungen an Chrissi

Entschuldigungen an Chrissi

Chrissi, ich weiß nicht, ob du mich nach diesem Text immer noch magst, aber ich möchte es aufschreiben. Nicht als Anklage gegen mich selbst oder gegen irgendwen. Sondern als ehrliche, aufrichtige Entschuldigung. Und als der Versuch, dir zu sagen, was ich damals nicht sagen konnte, oder nicht gesagt habe, oder nicht in der richtigen Form.

Ich war mit O zusammen. Du warst die, die er angerufen hat, als er mich fand. 2009, nach dem Suizidversuch. Ich hatte versucht, mich mit Abgasen umzubringen - bei ihm zu Hause. Als ich nicht mehr konnte, als ich seit Jahren gekämpft und verloren hatte.  Ich erinnere mich kaum an das Auffinden. Ich war benommen, weggetreten, aber nicht bewusstlos. O wusste nicht, was er tun sollte – wie auch. Er rief dich an. Und du sagtest: Fahr sie nach Lohr. Lass sie einweisen. In die Klinik.

Und das tat er. Ich weiß, wie schwer ihm das gefallen ist. Er ist jemand, der Freiheit über alles stellt, und die Vorstellung, mich da in eine geschlossene Station zu bringen, war für ihn ein Albtraum, er hatte auch Bedenken für meine berufliche Zukunft, aber er tat es, weil du es gesagt hast. Weil ihr beide wusstet, dass ich sonst vielleicht nicht überlebe. Und auch wenn es in dem Moment für euch wahrscheinlich wie ein Akt der Verzweiflung aussah – es war eine Rettung, ihr habt mich den ersten Schritt zu meiner Rettung gedrängt, den ich alleine zu spät gegangen wäre, aus falschem Stolz. Und ich bin euch beiden dankbar - unglaublich dankbar. Ich war es damals nicht sofort. Ich kann mich an meine erste Reaktion kaum erinnern. Ich stand unter Tavor - massiv unter Tavor. Ich stand unter dem Schock des Versuchs. Und ich war einfach weg. Aber ich bin nicht sauer. Wie könnte ich das sein? Ich glaub ich war es nicht mal damals, falls ich es dir damals anders mitteilte möchte ich mich dafür extra entschuldigen. Was ich dir sagen will, ist: Ich bin dir nicht böse. Ich war dir nie wirklich böse. Vielleicht war ich verwirrt. Vielleicht verletzt in meiner Würde. Aber ich bin dir nicht böse.

Ich bin dir dankbar. Du hast damals getan, was getan werden musste. Und ich weiß, dass du dir bis heute Vorwürfe machst. Das musst du nicht. Bitte, mach dir diese Vorwürfe nicht mehr. Du hast nichts falsch gemacht. Du hast mein Leben gerettet. Und ich kann dir das nicht genug sagen.

Dennoch, jetzt kommt die Rechtfertigung, die man eigentlich weglassen sollte in Entschuldigungen: Ich hab mich nicht versucht umzubringen um dir oder O zu schaden. Ich kämpfte seit 2005 gegen die Depression, psychisch gesund war ich nie, latente Suizidgedanken habe ich mit 12 das erste Mal notiert. Selbsthass und Selbstabwertungen waren meine Begleiter, in meinem Kopf war täglich ein Krieg gegen mich selbst. Durch falschen Stolz und falsche Scham holte ich mir keine Hilfe. Ich kämpfte lieber alleine und ich verlor. Schaust du deshalb auf mich herab? Manchmal frag ich mich das. Du hast auch viele Päckchen zu tragen und nicht aufgegeben wie ich mehrmals in meinem Leben. Denkst du ich bin schwach?

Was danach kam, waren dunkle Jahre. Die Depression hatte mich schon seit 2005 fest im Griff. Und zwischen 2009 und 2020 war ich 12 mal in Lohr. Manchmal dreimal im Jahr. Manchmal mit nur wenigen Wochen Abstand. Manchmal fast durchgehend. 2010 war ich ein Jahr in der beruflichen Reha, flog raus, weil ich nicht rehafähig war. Zog zurück zu meiner Mutter, das Saufen verlor jegliches Maß. Ab 2011 war ich in der Suchthilfe-Tagesstätte und Suchthilfe-Wohneinrichtungen bis 2015. 2012 habe ich die DBT mit mehreren Modulen in Nürnberg in der Klinik gemacht.  Ich habe während dieser Zeit oft versucht, Kontakt zu dir aufzunehmen. 

Und das kam falsch rüber. Das weiß ich. Dass du dachtest: „Sie ruft nur an, wenn sie fällt." Und ich verstehe das. Denn ich habe oft versucht, dir zu schreiben, wenn ich nicht mehr konnte. Wenn das Leben gerade wieder zu viel war. Ich wollte dir nicht zur Last fallen. Ich wollte dich nicht an dein Helferkomplex-Zentrum schreiben. Ich wollte einfach nur, dass du weißt, ich denke an dich. Und vielleicht wollte ich auch, dass du weißt: Ich kämpfe. Ich gehe nicht unter. Ich mach weiter, ich schmeiß nicht weg was O und du gerettet haben.

Ich habe dir manchmal auch in besseren Momenten geschrieben. Ich habe dir von Konzerten erzählt. Von Tattoo-Conventions. Von Dingen, die du mochtest. Ich weiß, es war nicht oft. Ich weiß, es war nicht regelmäßig. Aber ich wollte dir zeigen: Ich denke an dich auch dann, wenn ich nicht am Boden liege. Nur waren diese Phasen nicht so häufig. Ich war oft am Boden und dann hätte ich das schreiben lassen sollen.

Ich will nicht, dass du denkst, ich habe dich benutzt. Oder dich nur dann gesucht, wenn ich in Not war. Das war nie meine Absicht. Aber ich verstehe, wenn es so angekommen ist. Und dafür entschuldige ich mich. Ehrlich. Ohne Rechtfertigung. Auch wenn ich sie gerne nachschiebe. Auch wenn ich dir gerne erklären würde, dass das alles nicht gespielt war, nicht kalkuliert, nicht manipulativ. Wenn ich dich damit überfordert habe, wenn ich dich damit belastet habe – dann tut mir das leid. Denn ich stehe zu dem was ich immer sage: "Man ist nicht nur für die eigene Intention der Worte verantwortlich, sondern auch wie sie ankommen, denn dein Gegenüber hat nichts anderes."

Du bist ein Teil meines Lebens gewesen, auch wenn du manchmal nur als Lichtpunkt am Rande aufgetaucht bist. Ich habe dich geschätzt. Ich schätze dich noch. Ich weiß, dass du viel mit dir herumträgst. Dass du helfen willst, auch wenn du längst müde bist. Dass du mehr gibst, als du oft zurückbekommst. Und ich wollte nie Teil des Problems sein. Ich wollte nie jemand sein, der dich weiter müde macht. Wenn ich das war – dann entschuldige ich mich auch dafür.

Ich lebe noch. Und das ist nicht selbstverständlich. Und du bist eine von denen, die dazu beigetragen haben. Auch wenn du es vielleicht nicht so sehen willst. Auch wenn du nur gesagt hast: „Fahr sie nach Lohr." Auch wenn du damals nur getan hast, was man tun muss – es war nicht irgendwas. Es war alles.

Danke, Chrissi.
Und: Es tut mir leid.
Für das, was ich möglicherweise ausgelöst habe. Für das, was ich nicht zeigen konnte. Für das, was ich dir aufgelastet habe. Das ich dich angeschrien habe letztens.   

Aber mach dir bitte für den Rat zur Einweisung damals nicht den geringsten Vorwurf. Dafür bin ich dir einfach nur dankbar.


 

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